Wo sich die Germanist*innen zum Baden treffen – Bericht über das 28. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur (E. Havranek) [D]   作成日:2019/12/20
Vom 15. bis zum 17. November fand das 28. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Nozawa Onsen statt. Das Thema waren die Werke von Thomas Stangl. Der Autor war dieses Jahr selbst anwesend und hielt über drei Tage verteilt vier Lesungen.


Die Seminarteilnehmer*innen trudeln gewöhnlich im Laufe des Freitagnachmittags ein, sodass beim üppigen Abendmahl, das die offizielle Eröffnung der Veranstaltung darstellt, um 18.30 Uhr dann alle versammelt sind. Auch dieses Jahr wurden etwa zwei Stunden lang regionale und saisonale Spezialitäten serviert, weshalb das Publikum gegen 20.30 Uhr satt, und nach einem langen Tag matt, eigentlich nur noch mäßig aufnahmefähig war.


Doch Wissenschaft wie Kunst fordern eine gewisse Opferbereitschaft und so begab man sich vom Speisesaal in den Seminarraum, wo nun auch die inhaltliche Eröffnung durch einen Einführungsvortrag von Leopold Federmair vollzogen werden sollte. Federmair sprach sehr ausführlich über verschiedene Themen des literarischen Werks von Stangl wie Raum, Zeit oder Identität. Danach folgte noch die erste wegen der bereits fortgeschrittenen Stunde gekürzte Lesung Thomas Stangls. Er las etwa 15 Minuten lang einige kurze Texte aus seinem aktuellen Erzählungsband Die Geschichte des Körpers und machte damit den Weg frei für den ersehnten gemütlichen Ausklang des Abends. So wurde bei Wein und Bier noch bis in die Morgenstunden geplaudert und diskutiert. Einige ließen es sich auch nicht nehmen zum Abschluss dieses ersten Tages noch das heiße Wasser des hoteleigenen Thermalbades zu genießen. Schließlich sind neben den Skipisten die heißen Quellen die Hauptattraktion des Ortes, der das jährliche Seminar beherbergt.


Das dichte Programm des zweiten Tages begann nach einem prächtigen Frühstück mit einem Vortrag von Miyuki Soejima, in dem sie mit Geistern und Gespenstern ein Thema aufs Tapet brachte, das im Laufe des Seminars immer wieder auftauchen sollte. Sie bezeichnete die schillernden Erzählpositionen bei Stangl als „gespenstisch”, die aber so etwas wie einen zärtlichen Blick aus dem Reich der Gespenster auf die reale Welt ermöglichten.


Im Anschluss hielt Thomas Stangl seine zweite Lesung, in der er die kürzlich mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnete Erzählung „Die Toten von Zimmer 105” aus der Sammlung Die Geschichte des Körpers vorlas. Darin geht es um die Bewohner des titelgebenden Zimmers in einem Altersheim und einen Zivildienstleistenden, den Erzähler, der diese betreut. Das faszinierende an dieser Erzählung ist die Verweigerung einer einfachen Beobachtungsperspektive auf die alten Menschen. Stattdessen wird die Perspektive gewendet: Der Erzähler nimmt Position der „Patienten” ein und zeigt trotz perfekter Organisation und souveränem Handeln der Verantwortlichen im Altersheim die Hilflosigkeit gegenüber dem Altern und dem Sterben.


Nach einer kurzen Pause hielt Ann Cotten das zweite Referat des Vormittagsprogramms. Sie beschäftigte sich mit dem Erkenntnisinteresse in Stangls Literatur und kategorisierte sein Werk in einer sprachkritischen Tradition, die bis zur experimentellen Introspektionspraxis eines Karl Bühlers zurückreiche.


Eine etwas längere Mittagspause bot die Gelegenheit, die schwere Kost des Vormittags zu verdauen und sich mit einer Portion Soba oder Udon für den Nachmittag zu stärken. Denn auch dieser versprach ein intensives Programm.


Den Anfang machte Kyoko Tokunaga. Sie beschäftigte sich mit den Erzählungsbänden Reisen und Gespenster und Die Geschichte des Körpers und kam in ihrem Vortrag auf die Gespenster zurück. Sie argumentierte, dass die schriftlich fixierte Literatur den „Körper des Gespenstes” und somit des Geistes des Autors darstelle.


Direkt im Anschluss folgte das Referat von Walter Vogel, der anders als im Programm angekündigt nicht über Die Geschichte des Körpers sprach, sondern sich mit Stangls bisher letztem Roman Fremde Verwandtschaften auseinandersetzte.


Einer der Höhepunkte des Programms war das Werkstattgespräch, das Leopold Federmair mit Thomas Stangl führte, und bei dem der Autor spannende Einblicke in seine Arbeitsweise gab. Er erzählte von seinem kleinen Arbeitsplatz in einer großen Wohnung, von der Inspiration, die er aus Filmen beziehe, und dem Rhythmus seiner Sätze, der ihm oft wichtiger sei als deren Sinn. Stangl beantwortete auch Fragen des Publikums geduldig und ausführlich, wie er das schon in den Diskussionen nach den Referaten gemacht hatte. Denn immer wieder kam man in den Gesprächen über Stangls Literatur an den „Das-könnte-man-doch-den-Autor-fragen”-Punkt und so tat man das. Der Autor gab nachsichtig Auskunft. Nach dem Werkstattgespräch las Stangl noch den Essay „Eine Leere ein Surren: Über den Raum der Literatur” aus der Sammlung Freiheit und Langeweile, in dem er poetologische Überlegungen anstellt. Die Lesung erreichte aber nicht das Ende des Textes, sondern wurde an dem Punkt beendet, als zum Abendessen gerufen wurde.


Gestärkt durch ein neuerlich üppiges, vielfältiges und kunstvoll präsentiertes Mahl konnte der Abend mit Radio- und Filmaufnahmen von Interviews mit Thomas Stangl ausklingen und in eine informelle Diskussionsrunde übergehen, die bei Wein, Bier und Sake wieder bis tief in die Nacht ging.


Schließlich kam am Sonntag der letzte Halbtag des Programms. Die Zimmer mussten geräumt und das Gepäck im oder vor dem Seminarraum verstaut werden, wo man sich nach einem herzhaften Frühstück ein letztes Mal für dieses Jahr einfand. Den Anfang vom Ende machte Christian Zemsauer mit seinem Referat über die Essays von Thomas Stangl. Er zeigte darin Referenzen in Stangls Werk etwa zu Kafka, alternativer Popmusik und Autorenfilmen der 1960er Jahre sowie die Poetik Stangls, die sich ansatzweise aus den Reflexionen über Literatur und Kunst in den Essays ableiten lässt. Den letzten Vortrag hielt Lina Bittner. Sie sprach über Fremdheit und Postkolonialismus in den Werken Stangls.


Zum Abschluss las Stangl noch eine längere Passage aus seinem letzten Roman Fremde Verwandtschaften, in der der Protagonist nach langer Suche im Gefühl des „Fremdseins” und des „Nichtdazugehörens” einen Moment des „Ankommens” erlebt. Ein höchst passendes Ende der Veranstaltung, das in Bezug auf die Werke Thomas Stangls viel eher die Stimmung der Teilnehmer beschrieb als die reale Situation des Aufbruchs.


Für nächstes Jahr ist geplant, Julya Rabinovich einzuladen und sich mit ihren Werken zu beschäftigen. Es ist zu wünschen, dass dieses durch seinen Ort und Rahmen, wie durch die persönliche Interaktion aller Teilnehmer sehr familiäre Seminar, nächstes Jahr wieder mehr Zuspruch findet. Dieses Jahr war man mit unter 30 Teilnehmern schon an der Grenze des sinnvoll Möglichen und so waren Überlegungen zu Veränderungen in Organisation und Gestaltung immer wieder Gegenstand der informellen Gespräche. Ann Cotten legte einige schriftliche Vorschläge zur Aufwertung der Homepage vor. Außerdem wurde ein Fragebogen unter den Anwesenden verteilt, dessen Auswertung dabei helfen soll, das Seminar vor allem für junge Forschende attraktiver zu machen. Eine der vor Ort diskutierten Ideen war, die Referate im Anschluss an das Seminar gesammelt zu publizieren; eine andere, Teile der Videoaufzeichnungen, etwa die Werkstattgespräche, auf der Homepage einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.


Man wird sehen, welche Ergebnisse die Reflexion über Veränderungen und Verbesserungen bringt. Wünschenswert wären neben dem Fortbestand des Seminars eine Aufwertung und größere öffentliche Kenntnisnahme zweifellos.


Erich Havranek (Sophia Universität)