Bericht über das 24. DaF-Seminar (R. Kuklinski) [D]   作成日:2019/04/30
Vom 15. bis 18. März 2019 fand im Tama-Nagayama Information & Education Center in Tama-shi das 24. DaF-Seminar statt, zur Abwechslung mal nicht mit einem linguistischen, sondern einem literaturwissenschaftlichen Thema: „Literarische Texte im DaF-Unterricht - Konzepte und ihre Anwendung”. Dies und die Verlegung des Seminarortes vom beliebten Hayama, vis-à-vis mit dem Fuji-san, mitten hinein in die Outskirts von Tokyo mögen dafür gesorgt haben, dass manch „Alteingesessene” unter den Teilnehmenden mit der Anmeldung gezögert haben. Dafür konnten einige „Frischlinge” hinzugewonnen werden, so dass am Ende mit 32 Personen die geradezu ideale Größe für eine dreitägige intensive und konstruktive Gruppenarbeit erreicht wurde.
Als ,Nicht-DaFler’ mit Herkunft aus der Literaturwissenschaft war ich unter den Teilnehmenden zwar eher in der Minderheit, dafür umso mehr schon im Vorfeld vom Thema begeistert. Diese Begeisterung wurde durch die kluge Wahl des Gastes aus deutschen Landen noch gesteigert. Mit Frau Prof. Dr. Simone Schiedermair von der Friedrich-Schiller-Universität Jena konnte eine Gastreferentin gewonnen werden, die das Thema „Literatur im DaF-Unterricht” ebenso unterrichtspragmatisch und fachdidaktisch wie auch unerschrocken anging. Hatte so manch ein*e Teilnehmende*r im Vorfeld vielleicht befürchtet, es würden nun drei Tage lang Wilhelm Meisters Lehrjahre und die Buddenbrooks für den A1-Unterricht „aufgemöbelt”, so konnten diese Befürchtungen bereits durch den ersten Vortrag am Spätnachmittag des Anfahrtstages (Freitag) zerstreut werden. Mit dem Thema „Literatur und Sprache” ging es - nach der üblichen Beschnupperungsrunde beim Begrüßungskaffee - direkt hinein in die Vermittlung fremdsprachlicher Kreativität und Freude, die schon durch einfachste Formen literarischer Verfremdung wie Sprachspiele, konkrete Poesie, Kurzgeschichten - nicht zuletzt aus dem an Kurzgeschichten nie verlegenen Öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland - und kurze Ausschnitte aus längeren Erzählungen erfahrbar gemacht werden können. Aber auch vor dem Umgang mit klassischen literarischen Formaten im DaF-Unterricht wurde den Teilnehmenden die Scheu genommen - wunderbar komisch illustriert etwa anhand Goethes Wandrers Nachtlied II und dessen prosaischer Verfremdung in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Die Teilnehmenden lernten, das Fremde an der literarischen Form, mit dem manche im Vorfeld des Seminars vielleicht selbst gefremdelt hatten, nicht als etwas Befremdliches zu begreifen, sondern im Gegenteil als Hilfestellung, sich mit den sprachlichen Strukturen, aber auch der Ausdrucks- und Ideenwelt einer fremden Kultur vertraut zu machen.

In zwei weiteren Vorträgen, am späten Samstag- und Sonntagnachmittag, wurde das Thema um die Perspektive der Rezeptions- und Wirkästhetik (Vortrag 2, „Literatur und Leser*in”) sowie der Diskurstheorie (Vortrag 3, „Literatur und Diskurs”) erweitert. Der erste dieser Ansätze stellt nicht den literarischen Text selbst, sondern dessen Aneignung und Erweiterung durch die Lernenden in den Mittelpunkt; hier dient Literatur im DaF-Unterricht oftmals als Sprungbrett für das Abfassen eigener Texte in der Fremdsprache. Der dritte und letzte Vortrag machte uns am Sonntag mit dem Begriff der Textnetze vertraut, worunter literarische Korpora zu verstehen sind, die aktuelle gesellschaftliche Diskurse verhandeln - und eben nicht behandeln - und die Lernenden über das Erlebnis der Leselust an den jeweiligen Diskurs heranführen. All diese vielleicht eher nüchtern klingenden theoretischen Ansätze wurden von Frau Prof. Dr. Schiedermair durch zahllose Literatur-Beispiele aus dem DaF-Unterricht konkretisiert, die sicherlich mit zu den wertvollsten Ergebnissen des Seminars gehörten; so ging niemand nach Hause ohne einen ganzen Sack voller Ideen und literarischer Textbeispiele im Gepäck, die sich auch im A1- und A2-Unterricht ganz praktisch verwenden lassen.

An den beiden ersten Vormittagen wurde das am jeweiligen Vorabend Gelernte in den Workshops direkt in die fachdidaktische Tat umgesetzt. Dabei zeigte sich sehr anschaulich, wie - ganz nach Iser - Formen ästhetischer Verfremdung in ihrer Wirkung auf die Interpretation durch die Rezipierenden angewiesen sind: so endete der eher humorvoll hingeworfene Satz von Olga Czyzak vom Orga-Team, ihr die Arbeits-Ergebnisse doch bitte gleich auf Powerpoint rüberzuschicken, in einer wilden Arbeitswut aller Gruppen und, nach jeweils anderthalb Stunden, tatsächlich in zwei sowohl DaF-didaktisch als auch computerästhetisch hoch ausgefeilten Powerpoint-Präsentations-Slots. Die Arbeit mit und an den Texten - von Goethe und Eichendorff über Rudolf Otto Wiemer, Herta Müller, Elke Heidenreich und Tawada Yoko bis zum deutschen ÖPNV war alles vertreten -, die in alle erdenklichen Einzelteile zerlegt und didaktisch aufgepeppt wurden, machte eben soviel Spaß, wie sie konkrete Tipps und Anregungen für die eigene Unterrichtspraxis lieferte.

Der dritte Workshop am Montagvormittag bot noch ein besonderes Highlight. Doch etwas schlapp nach den arbeitsintensiven Vortagen mit wenig Schlaf, mit heiß gelaufenen mentalen Arbeitsspeichern, aber eher entleerten Akkus, nahmen wir gerne das Angebot der Seminarleiterin an, uns probeweise selbst in die Rolle ihrer universitären Kursteilnehmer*innen zu begeben. Nachdem wir zunächst einige Schreibaufgaben zu einem Textnetz aus dem Themenbereich „Flucht und Migration” bearbeitet hatten, wurde bei einigen interaktiven Spielen rund ums Thema „Zugehörigkeit” unsere Gruppendynamik auf die Probe gestellt, die sich nach drei gemeinsam durchlebten Tagen und Nächten aufs Beste bewährte: so rückten wir als Individuen wie auch als Gruppe im übertragenen und im Wort-Sinne ganz buchstäblich zusammen, um noch dem*der Letzten von uns vertrauensvoll einen Platz an dem viel zu kleinen Tisch zu gewähren, um den wir uns zu versammeln hatten - nicht ahnend, dass wir gerade die goldene Regel des (deutschen?) ÖPNV gebrochen hatten: wer neu ins Abteil kommt, wird ausgegrenzt. Eine Regel, über die wir durch ein letztes Literaturbeispiel sodann schmunzelnd aufgeklärt wurden.

Die Vortrags- und Workshopreihen der Gastreferentin wurden ergänzt durch zahlreiche Vorträge und Diskussionen der Teilnehmenden. Gleich am ersten Abend machte uns, im Anschluss an den Eröffnungs-Vortrag, Jan Hillesheim vom Goethe-Institut Tokyo mit den Schreibwerkstätten vertraut, die er seit Jahren im Goethe-Institut im Rahmen von C1-Literaturkursen veranstaltet. Dabei werden deutschsprachige Autor*innen anlässlich ihrer Japan-Reisen in den Kurs eingeladen, um dort eine kreative Schreibaufgabe zu initiieren und den Teilnehmenden ein Feedback zu den daraufhin entstandenen Texten zu geben; ein Format, das zu sehr konstruktiven Gesprächen im Kurs mit dem*der jeweiligen Autor*in und zu sehr positiven Schreiberlebnissen bei den Lernenden in der Fremdsprache führt.

Am frühen Samstagnachmittag gab es dann zunächst ein Zeitfenster für freien Erfahrungsaustausch und mögliche Kooperationen unter den Seminarteilnehmenden. Hier regte Maria Gabriela Schmidt das Projekt eines Wörterverzeichnisses für Begriffe der japanischen Alltagssprache an, die nicht oder nur schwer angemessen ins Deutsche übersetzt werden können; eine solche Liste soll es vor allem japanischen DaF-Lernenden ermöglichen, ihren Alltag in einer angemessenen Wortwahl auf Deutsch (z.B. „Reisbällchen” für o-nigiri) oder auch in grammatisch angepasstem und im Deutschen etablierten Japanisch (z.B. „das/der Onigiri”) zu beschreiben, ohne auf altertümliche Wortverrenkungen à la „die Wegzehrung” (für o-bentō), die wir wohl alle aus dem DaF-Unterricht kennen, zurückgreifen zu müssen. Eine weitere Unterrichts-Idee wurde von Nina Kanematsu aufgeworfen, die im DaF-Unterricht Hörbücher von YouTube mit Bildmaterial verwendet hat und über ihre Erfahrungen berichtete; hier wurden u.a. Beispiele von möglichem Unterrichtsmaterial wie die Easy Reader-Ausgaben der DaF-Verlage gesammelt.

Am Samstagabend stellte uns Junko Fujimoto dann in einem Vortrag ihre persönlichen Erfahrungen und praktischen Tipps bei der Verwendung von Lesetexten im Deutschunterricht an der Hokkaido-Universität vor; hier stieß nicht zuletzt das Korpus kurzer, handlicher Prosatexte für den Unterricht, den Frau Fujimoto praktischerweise gleich für alle kopiert hatte, auf allgemeines Interesse. In einem zweiten Vortrag stellte Maria Gabriela Schmidt ihr Forschungsprojekt über Motivation und Demotivation im Fremdsprachenunterricht vor, das auf die emotionalen Aspekte beim Sprachenlernen fokussiert und mit der eindringlichen Bitte an die Seminar-Teilnehmenden endete, motivierenden Unterricht zu gestalten - eine Bitte, der sich sicherlich alle anschließen konnten.

Am Sonntagnachmittag stellte dann Nina Kanematsu ihr Vorhaben zur Diskussion, den Jugendroman „Malka Mai” von Mirjam Pressler, der sich mit dem Holocaust befasst, im B1-Kurs einer japanischen Universität zu lesen; hier ging es in erster Linie um praktische Fragen bei der Verwendung von Unterrichtsmaterial, das zu dem Roman bereits vorliegt, jedoch nicht für DaF-Lernende, sondern für Schulen im deutschsprachigen Raum entwickelt wurde. Abgerundet wurden die Teilnehmer*innen-Vorträge durch den Beitrag von Anette Schilling, die am Beispiel der didaktischen Aufarbeitung von Herta Müllers Collagen-Gedichten noch einmal die grundsätzliche Frage nach dem Warum von Literatur-Vermittlung im Fremdsprachenunterricht stellte; eine Frage, die nach diesem engagierten und sehr praxisorientierten Beitrag erneut eindeutig positiv beantwortet werden konnte.

Bei allem Eifer am Didaktisieren und Debattieren wurde natürlich auch gelebt. Dabei zeigte sich die Wahl des neuen Seminarortes - für manch hartgesottenen Hayama-Fan vielleicht zunächst überraschend - als ziemlicher Glücksfall. Nicht nur die bessere Anbindung durch den japanischen ÖPNV - ganz ohne DaF-affine Anekdoten - und die lokalen Versorgungsmöglichkeiten durch Geschäfte und Restaurants verschafften Tama-Nagayama einige mentale „Likes”. Auch die einfache und stressfreie Handhabung von vegetarischen etc. Sonderwünschen beim Essen durch das sehr freundliche und entspannte Restaurantteam sorgten dafür, dass sich alle in Tama wohlfühlen konnten; mit dem Willkommens-Dinner am Freitagabend im Onsen-Stil hatte die Küchenmannschaft ohnehin Sympathiepunkte gesammelt. Zwar musste man sich beim gemütlichen Teil an den drei Seminarabenden den Raum z.T. mit anderen Gästen (leider auch mit rauchenden) teilen, doch war der Raum groß genug, dass alle in lockerer Runde zusammensitzen konnten; hier muss unbedingt erwähnt werden, dass es an allen Abenden eine üppige Versorgung mit Knabbereien, Getränken und Bechern durch das hervorragende Orga-Team gab. Die größte Überraschung aber hielt der Tama-nagayama selbst bereit: im Seminarraum im 5. Stock sollte sich zeigen, dass man hier, mitten in Tama, letzten Endes eben auch auf sehr viel yama saß, hoch oben über Tama, Blickrichtung Südwest, drei Tage bei meist strahlendem Sonnenschein - direkt vis-à-vis mit dem Fuji-san. Und ganz ohne Aufpreis. Wer da kein Foto mit nach Hause gebracht hat, hat entweder keinen Sinn für Szenerie - oder kann (wie ich...) den Fuji auch von zu Hause sehen.

Auf der Abschlussfeier am Sonntagabend, noch einmal zwei Stockwerke über dem Seminarraum, sorgte das Fuji-Panorama - im Sonnenuntergang! - erneut für Atmosphäre und vielfältiges Klicken der Smartphones. Bei einem äußerst üppigen Büffet, das wir leider nur zur Hälfte bewältigen konnten, hatten wir Gelegenheit, uns bei allen zu bedanken, die das Seminar unterstützt und zu seinem Gelingen beigetragen haben. Dies war neben der JGG vor allem der DAAD Tokyo, vertreten durch Dr. Manuela Sato-Prinz, die auch an der Vorbereitung und Durchführung des Seminars mitgewirkt hatte; und weiter die „Gesellschaft zur Förderung der deutschen Sprache und Literatur” sowie das Goethe-Institut Tokyo. Ein ganz besonderer Dank ging natürlich an die Gastreferentin Frau Prof. Dr. Schiedermair, die uns alle drei Tage mit sehr viel Energie, Einfühlungsvermögen und guter Laune durch ein dann doch für alle erfrischend unterrichtspragmatisches Seminar geführt hat. Und an dieser Stelle möchte ich mich im Namen aller auch bei dem hervorragenden Orga-Team bedanken, das für das diesjährige Seminar neu zusammengestellt worden war und uns sowohl logistisch als auch mit Informationen rund um die Uhr bestens versorgt hat: Dank an Akira Kusamoto, Ayami Morimura, Cezar Constantinescu, Chihiro Kamata, Frank Nickel, Manuela Sato-Prinz, Olga Czyzak, Ralph Degen und Shinichi Sakamoto, sowie die beiden unermüdlichen Assistentinnen Megumi Tanaka und Sora Matsumoto, die uns permanent mit Getränken und Snacks versorgten und noch in ihren Pausen mit Apfelstückchen für zusätzliche Vitaminschübe sorgten. Wir freuen uns schon aufs nächste Jahr mit euch!

Anm.: Eventuelle ästhetische Verfremdungen im Text haben keinen anderen Sinn als die reine Freude an der Form. Sie dürfen gern herausdidaktisiert werden.

Ruben Kuklinski (Universität der Künste Tokio)